Mein Problem mit der politischen Kaste Deutschlands

Es rumort schon Jahre, Jahrzehnte in mir, dieses Unbehagen gegenüber dessen, was man gemeinhin als „die Politiker“ oder „die Politik“ bezeichnet. Da ich schon seit geraumer Zeit den Eindruck habe, dass ein großer Teil der Poltiker, die an neuralgischen Punkten für Entscheidungsfindung und -beeinflussung sitzen, kaum mehr Schnittmengen mit dem alltäglichen Leben von Millionen einfacher, ganz normaler Menschen haben, verwende ich für die verallgemeinernde Umschreibung dieser politischen Führungsgruppe die Bezeichnung der politischen Kaste Deutschlands.


Doch aus welchen Gründen manifestiert sich dieses Unbehagen gerade jetzt? Ich vermute, maßgeblich ist meine Wahrnehmung zum Thema Stuttgart21 verantwortlich. Als ich das erste Mal von diesem Projekt hörte, das kann jetzt gut und gerne 15 Jahre her sein, da war ich begeistert – eine gigantische städtebauliche Entwicklung, Lebensraum entsteht und all diese urbanen Unterhaltungs- und Shoppingzentren, die Mitte der Neunziger im Gespräch waren, hätten hier beispielsweise wunderbar Platz zum Ansiedeln gefunden. Und irgendwie habe ich düster in Erinnerung, dass die ersten Überlegungen sogar noch von Kostenneutralität sprachen, da man einen Großteil der Baukosten mit dem Verkauf von hochpreisigen Grundstücken mitten in der Stadt finanzieren könnte und außerdem noch massive Zeiteinsparungen im Zugverkehr hätte.

Inzwischen ist 2010 und von Kostenneutralität und den massiven Zeiteinsparungen keine Spur mehr. Das grundlegende Problem an diesem ganzen Projekt für mich ist, dass man es in jahrzehntelangem Geschachere offenbar geschafft hat, ein etliche Milliarden teures Bauprojekt nahezu ohne wirkliche Beteiligung oder Befragung der Bevölkerung durchzudrücken und sich jetzt darüber wundert, dass große Teile der Bevölkerung von der Ignoranz mit der die politische Kaste hier verfahren ist und aktuell verfährt einfach nur noch angewidert sind. Ein Tweet von Peter Kruse bringt das für mich folgendermaßen auf den Punkt

„Verblüffende Ignoranz: Irgendwie scheint die Politik immer noch zu glauben, dass es bei Stuttgart21 um Widerstand gegen ein Bauprojekt geht.“

Nein, es kommt langsam Bewegung in Teilen der Bevölkerung auf. Man ist nicht mehr gewillt, sich auf seichte, wohldosierte Formulierungen mit dem immerwährenden Blick auf das Presseecho und die aktuellen Stimmungstrends abspeisen zu lassen – insbesondere wenn die politische Kaste über das Geld redet und entscheidet, zu deren Wertschöpfung sie am wenigsten beigetragen hat. Und genau an dieser Stelle kann ich den Unbill nahezu körperlich greifen.

Man traut der politischen Kaste schlicht und ergreifend nichts mehr zu und auch nicht mehr über den Weg. Immer weiter abnehmende Wahlbeteiligung spiegelt das seit Jahrzehnten wieder. Die Gründe liegen nicht darin, dass die eine oder andere Partei ihre Stammwählerschaft nicht mobilisieren konnte, sondern schlicht und ergreifend darin, daß ein großer Teil der Bevölkerung keinerlei Vertrauen mehr in die politische Kaste hat. Dieses Vertrauen haben CDU/CSU, FDP und SPD in den vergangenen Jahrzehnten verspielt.

Beispiele?

  • Gesundheitspolitik:
    Solange ich mich zurückerinnern kann, war das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps, schon zu meinen Grundschulzeiten sprach man in Nachrichtensendungen (damals durfte man auch als Kind während der Nachrichten und der anschließenden Wettervorhersage niemals ein Wort sprechen) von explodierenden Kosten im Gesundheitswesen. Es soll ja sogar, las ich mal in einem Artikel im Stern, bereits Ende der Sechziger Jahre einen Gesundheitsminister gegeben haben, der damals schon forderte, dass ein Patient, egal ob privat- oder kassenversichert, seinen Arzt immer mit einem Durchschlag über die abzurechnenden Leistungen verlassen sollte. Nun das eine ist 50, das andere 30 Jahre her, aber die Politik hat es bisher lediglich verstanden, ein offensichtlich vollkommen intransparentes und defizitäres Gesundheitssystem am Leben zu erhalten und die Bevölkerung wartet seit Jahrzehnten auf DIE große Reform. Vertrauen verspielt.
  • Rentenversicherung:
    Schon Minister Blüm („Die Renten sind sicher“) wusste zu seiner Amtszeit, dass sich die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung dramatisch verändert. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in den vergangenen 100 Jahren rapide an; lag diese um 1900 noch bei rund 47 Jahren, ist für aktuell in 2010 geborene Deutsche eine Lebenserwartung von mindestens 80 Jahren gültig. Das heißt kurz zusammengefasst: Deutschland wird immer älter und der Anteil der über 60-jährigen entwickelt sich zur größten Bevölkerungsgruppe. Laut Statistischem Bundesamt stehen in 2008 noch 100 Erwerbstätige zwischen 20 und 65 Jahren, und somit diejenigen, die für die jeweils aktuellen Rentenzahlungen hart arbeiten, rund 34 Personen über 65 Jahre gegenüber; im Jahr 2060 wird sich diese Zahl auf 67 nahezu verdoppeln. Bereits heute beträgt der jährliche Bundeszuschuss in das deutschen Rentensystem 80 Milliarden Euro. Das alles ist grundsätzlich seit über 15 Jahren bekannt. Gab es nennenswerte Reformen, außer die Renteneintrittsalter schrittweise anzuheben? Vertrauen verspielt.
  • Staatshaushalt:
    Auch beim Staatshaushalt erging es mir, wie in der Gesundheitspolitik: Jahraus jahrein, von Regierung zu Regierung, stieg die Staatsverschuldung. Und just als sie am höchsten war und uns allen eigentlich klar war, dass mehr nicht geht (man hatte ja die „Schuldenbremse“ im Haushalt verankern wollen), da mobilisierte die politische Kaste eine gigantische Bankenrettung im Rahmen der Weltwirtschaftskrise und überführte privatwirtschatlich angehäufte Finanzrisiken in staatlich gesicherte Badbanks. Das Geld, was Banken und Heuschrecken-Investoren verdient haben indem sie irrsinnige Risiken eingegangen und sich gnadenlos verzockt haben, dafür steht jetzt der Steuerzahler ein und das Ziel, von dem mir die politische Kaste seit 30 Jahren vorschwärmt, dem ausgeglichenen Haushalt nämlich, werde ich wohl nie erleben dürfen. Davor, na klar, litt der Haushalt wegen der Ölkrise, dann musste man ihn plündern wegen der deutschen Einheit und jetzt wegen der Finanzkrise. Egal:Vertrauen verspielt.
  • Deutschland als Hochtechnologieland
    Die politische Kaste hält diese Aussage immer stolz hoch, weiß aber offensichtlich nicht damit umzugehen. Hierzu drei Gedanken: Transrapid: Realität gewordene deutsche Ingenieurskunst in Form einer Magnetschwebebahn mit Geschwindigkeiten bis 400 km/h. Seit 15 Jahren einsatzbereit, doch in Deutschland fährt er nicht; er fährt in Shanghai. Digitaler Behördenfunk. Man mag es kaum glauben, aber selbst im Jahre 2010 ist Deutschland das einzige Land in der EU, in dem Digitaler Behördenfunk nicht landesweit im Einsatz ist. Google Streetview: Es war eine riesige Diskussion, aber sie war unnötig. Seit Mitte 2007 war durch Google ganz offiziell bekannt, dass man auch durch Deutschland fährt und Bilder macht. Mindestens drei Jahre lang schaut die Politik tatenlos zu, um sich dann im Sommer 2010 in populistischen Forderungen und wildem Geschrei nach dem Schutz der Persönlichkeitsrechte darauf zu einigen, dass man auf gesetzlicher Ebene etwas tun müsste. Vorrausschauende und am Bürgerwohl orientierte Politik und das Fördern des Technologielandes Deutschland geht anders: Vertrauen verspielt.
  • Deutschland als Einwanderungsland
    Wir haben die unsägliche Sarrazzin-Debatte hinter uns und ich möchte hier weder verharmlosen noch irgendwie ausländerfeindlich herumreiten. Ich gehe mal ein paar Jahrzehnte zurück, als Deutschland im Sog des Wirtschaftswunders und der goldenen Jahre massiv Arbeitskräfte suchte. Da wurden erst Italiener als Gastarbeiter eingeladen, dann auch Spanier, Türken und so weiter. Ich höre heute noch Helmut Kohl mit der Feststellung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ und ich fragte schon damals, Herr Kohl, wissen Sie,was sie da sagen? Meine Erleben war schon damals anders. Aber zunächst war doch alles darauf ausgelegt: Man quartierte die Gastarbeiter in einem Viertel ein und wollte ja eigentlich auch gar keinen so großen Kontakt, denn es waren ja nur Gastarbeiter. In allen großen deutschen Städten kann man das historisch nachvollziehen. Sie sollten hier 10 bis 20 Jahre arbeiten und dann wieder zurück in ihre Heimat heimkehren. Dass das nicht funktioniert, war ja bald klar. Ich frage mich immer, wie man Menschen, die man als Gastarbeiter eingeladen hat, heute mangelnden Integrationswillen vorwerfen kann. Denn auch hier hat die politische Kaste aus meiner Sicht versagt. Irgendwann hätte man klar und deutlich formulieren müssen, was man von einem ausländischen Mitbürger an Integration erwartet, wenn er dauerhaft in Deutschland leben möchte. Auf der anderen Seite hätte man aber auch der deutschen Bevölkerung formulieren müssen, was man von ihr als aufnehmende Bevölkerung erwartet. Klare Spielregeln (Gesetze, Sprachanforderungen, etc.) hätten aus meiner Sicht viele der heute so schön diskutierten Migrationsprobleme verhindern können. Ich will das nicht hetzerisch oder populistisch verstanden wissen, aber viele Irrungen und Wirrungen hätte man sich in Deutschland ersparen können, wenn die politische Kaste früher und durchdachter gearbeitet hätte. Und jetzt ala Seehofer dumpf herumzupoltern bringt schon mal gar nichts. Vertrauen verspielt.

Und jetzt wundern sich Politiker, weshalb sehr viele Bürger einfach kein Vertrauen mehr in die politische Kaste haben?

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