Das Internet: Denn sie wussten nicht, was das bedeutet

333 bis Issos Keilerei. Die Information von dort in die Hauptstadt brauchte Tage. Dann kam der Telegraph, das Telefon und dann ich, irgendwann im Herbst 1994: Stolz wie Harry stelle ich mit einem 2400-Baud-Modem meine erste Onlineverbindung her. Es war eine zu einer Mailbox. Im Frühling 1995 dann mittels des BTX-Zugangs die erste WWW-Verbindung und natürlich habe ich den Netscape Navigator als ersten Browser verwendet. Danach entwickelte sich alles rasend schnell weiter.

Es ist die Zeit der ersten Webseiten, wie z.B. der SPIEGEL, der seine erste Webseite Ende 1994 liveschaltet. Wenn ich mich recht erinnere, wurde sie  einmal pro Woche aktualisiert. Ich stehe vor zwei Bankmitarbeitern, weil ich am BTX-Banking teilnehmen möchte und sie müssen zweimal telefonieren, bis ihnen jemand anderes sagt, wie man die Antragsformulare auszufüllen hat. Ich konnte für meine Mutter bei Quelle Dinge bestellen und ihr auch gleich sagen, ob der Artikel lieferbar ist, ohne dort anzurufen oder die berühmten Bestellkarten abzuschicken und dann zu warten, wann und welche Ware geliefert wird. Ich gebe die Bestellung oder die Überweisungsdaten ein und bekomme sofort eine Rückmeldung, unabhängig von Uhrzeit oder Ort.

Heute: Die Webseite vom SPIEGEL wurde in 2008 im Monatsdurchschnitt rund 90.000.000 mal (90 Millionen) besucht, Quelle ist pleite und meine Bank habe ich seit Jahren nicht mehr von innen gesehen. Damals sprachen viele Marketingmitarbeiter davon, dass das Internet „halt ein weiterer, neuer Vertriebskanal“ wäre. Leider haben sie übersehen, dass ihnen das Internet ihr eigenes Brot-und-Butter-Geschäft unter den Fingern weggerissen hat. Im Bezug auf Quelle: Während die Politik noch die Quelle-Pleite verdaute, freute sich Amazon über ein bombastisches Weihnachtsgeschäft und verzeichnete am Spitzentag 14.12.2009 mehr als 1.700.000 (1,7 Mio) bestellte Artikel. Und vor allem: „Das letzte von einem Amazon Prime-Mitglied bestellte Produkt – ein Paar Creative EP 630 ECO In-Ear Ohrhörer – wurde am 23. Dezember um 18.18 Uhr bestellt und am 24. Dezember um 9.52 Uhr ausgeliefert.“ . So ist der Stand der Dinge – heute will keiner papierhafte Kataloge wälzen oder eine Überweisung mit der Hand ausfüllen.

Warenbestellungen, die meine Oma noch per Bestellkarte angestossen hätte, erledige ich heute in der S-Bahn sitzend online bei Amazon. In New York legt ein Flugzeug eine Bruchlandung auf dem Hudson hin und ich bekomme über Twitter die ersten Bilder ungefähr 20 Minuten nach dem Vorfall. Mein Bruder sagt mir wenig später am Telefon, er hätte den Anteil für ein Geschenk tags zuvor überwiesen und noch während ich mit ihm telefoniere rufe ich die aktuellen Umsatzdaten meines Bankkontos ab und kann den Geldeingang bestätigen. Zu Hause angekommen schaue ich mir das erste Video zur Bruchlandung auf SPIEGEL an.

Doch was bedeutet das? Die Geschwindigkeit und die Verfügbarkeit von Informationen haben sich drastisch erhöht. Das althergebrachte Herrschaftsrecht von Institutionen wie z.B. Banken, Händlern aber auch Verlagen ist gebrochen. Niemand braucht heute eine Bank vor Ort oder ein Zeitungsabo. Ich behaupte einen Großteil des ursprünglichen Nutzens bekommt man heute online ohne Geld auszugeben. Doch die Reaktionen auf diese Veränderung sind so vielfältig wie fragwürdig. Bei Banken führte es dazu, dass ein großer Teil von Ihnen die Ansätze von Direktbanken kopierten und jetzt versuchen müssen, ihre Mehrkosten mit einem irgendeinem Serviceversprechen zu begründen. Verlage liegen seit langer Zeit mit Google hinsichtlich des Urheberrechts im Clinch, so als könnten sie den Wandel aufhalten. Apotheken versuchen verzweifelt den Online-Versandhandel auszubremsen, machen aber selbst zusehends Online-Apotheken auf. Und die Musikindustrie muss auch einfach mal einsehen, dass sie es versäumt hat, auf den Zug aufzuspringen. Statt frühzeitig einen Markt zu besetzen, mußte sie zusehen, wie ein Computerbauer (Apple) zu einem der größten Musikhändler der Welt wurde und nun ordentlich Geld aus dem Musikverkauf abzweigt.

Doch nicht nur die Industrie hat hier Chancen und neue Märkte verschlafen, die Politik tat es ihr gleich. Ob Politiker auf wahlpolitischen Kundgebungen einfach mal einem Flashmob aufsitzen oder doch ganz perplex sind, dass ausländerfeindliche Tiraden auf einem lokalen Markplatz auf einmal bei Youtube auftauchen, das Verhalten wirkt ungelenk und von Mitarbeiterstäben gepflegte Socialmedia-Profile wirken eher abschreckender als einladend. Davon ganz abgesehen hat es die Politik in den vergangenen 15 Jahren einfach nicht geschafft überzeugende Verwendung für das Internet zu finden. Die Rede ist immer von „Leuchtturmprojekten“; aber mal ganz ehrlich, wenn die Bundesregierung am 13. September 2006 das Programm E-Government 2.0 startet und noch immer verkündet, welche Teilthemen in 2010 in Angriff genommen werden SOLLEN(!), dann hat die Politik in keiner Weise begriffen, wie schnell sich die technische Welt weiterentwickelt.

Daneben wirkt die politische Kaste dieses Landes im Spannungsfeld zwischen Moral und Strafverfolgung wie ein Ford T in einem Formel1-Rennen. Wer die tolle Formel „Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ heute tatsächlich äußert, disqualifiziert sich gleich selbst. Beispiel 1: Kinderpornografie. Während die Politik in der guten alten Wenn-alle-weggucken-gibts-auch-keinen-Kindermissbrauch-Manier irgendwelche Sandkasten-Internetfilter installieren will, schaffen es Banken komischerweise Fishing- und Skimmingseiten binnen Stunden weltweit löschen zu lassen. Warum gelingt das unserem Staat nicht mit kinderpornografischen Seiten, zumal mindestens ein Drittel der illegalen Kinderpornos auf deutschen Servern liegt?

Beispiel 2: Öffentlicher Aufschrei als Google das Projekt Streetview in Deutschland für das Jahresende 2010 ankündigt. Missbrauch, nicht mit unseren Daten! Die deutsche Politik hatte mehr als zwei Jahre Zeit, sich hier zu positionieren. Seither war bekannt, was und wann Google in Deutschland erfassen und als Projekt starten wollte. Was geschah? Nichts. Noch peinlicher wurde es, als man sich eingestehen musste, dass die von Google verwendete Kartierung von W-Lan-Spots ja auch im Rahmen staatlich geförderter Forschungsprojekte erfolgte. Statt also hier proaktiv den Faden aufzunehmen, versuchen sachlich unwissende Politiker wieder mal den Lauf der Zeit aufzuhalten. Man könnte ja im Rahmen von Google Streetview allen Bürgern einfach die Möglichkeit an die Hand geben, dem Staat wichtige Informationen zukommen zu lassen. Zum Beispiel eine Straßenlaterne als defekt zu markieren, auf kaputte Straßen hinzuweisen oder Ähnliches.

Irgendwie alles sehr schade, denn viele Dinge könnten heute schon besser, schneller und kostengünstiger laufen. Ein Blick über den Tellerrand der deutschen Grenzen ist da immer ganz hilfreich. Eine Weisheit gilt aber auch hier an dieser Stelle:
Wer etwas will, findet Wege; wer etwas nicht will, findet Ausreden.

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